CfP – Disziplinäre Abgrenzungsstreitigkeiten: Rechtswissenschaft und Soziologie

Call for Papers

Disziplinäre Abgrenzungsstreitigkeiten: Rechtswissenschaft und Soziologie Anfang des 20. Jahrhunderts
Workshop vom 17./18. Januar 2020, Universität Erfurt

Organisation: Karlson Preuß, karlson.preuss@uni-bielefeld.de
Doris Schweitzer, doris.schweitzer@sowi.uni-giessen.de

Eine Veranstaltung des Max-Weber-Kollegs und der Forschungsgruppe Ordnung durch Bewegung‘ in Kooperation mit der Sektion Rechtssoziologie der DGS

Anfang des 20. Jahrhunderts gibt es einen Interferenzraum zwischen den (deutschen) Rechtswissenschaften und der sich konsolidierenden Soziologie: Beide Seiten nehmen in starkem Maße aufeinander Bezug.

Die juristische Hinwendung zur Soziologie ist insbesondere im privatrechtlichen Methodenstreit erkennbar. So werden soziologische Methoden der Rechtswissenschaft entworfen (etwa Ernst Fuchs, Johann Georg Gmelin, Hans Wüstendörfer), um die Lücken im Recht füllen zu können. Darüber hinaus wird der – nun als Begriffsjurisprudenz bekämpften – herrschenden Rechtswissenschaft vorgeworfen, dass sie den Bezug zum Leben kappe und daher zu ungerechten Urteilen führe. Um der nun als künstlich empfundenen Isolierung der Rechtswissenschaft von benachbarten wissenschaftlichen Disziplinen entgegenzuwirken, wird die Hinwendung nicht nur zu Philosophie und Psychologie, sondern insbesondere zur Soziologie gefordert. Im Anschluss an Arbeiten etwa von Ignatz Kornfeld, Ludwig Spiegel, Karl Georg Wurzel, und natürlich Eugen Ehrlich geht es – mit Hugo Sinzheimer gesprochen – um die Frage nach der Rolle der „soziologischen Methoden in den Privatrechtswissenschaften“ (Sinzheimer 1976 [1909]).

Auch in der entstehenden Soziologie, d.h. in den ersten Entwürfen der Soziologie und den Auseinandersetzungen über das Proprium soziologischer Untersuchungen bis hin zu ihrer Konsolidierung in der Weimarer Republik als eigenständige Disziplin, wurde die Auseinandersetzung mit dem Recht respektive der Rechtstheorie und -wissenschaft gesucht. Nicht nur gehört Recht unzweifelhaft in den Gegenstandsbereich der Soziologie. Vielmehr wird die Genese der Soziologie von vielen Autoren im engen Zusammenhang mit der Entwicklung des Rechtsdenkens gesehen. Das zeigt sich exemplarisch an der weitverbreiteten Frage nach der Rolle des Naturrechts, betrifft aber ebenso die Bestimmung des Verhältnisses zur Historischen Rechtsschule3 bzw. zum funktionalen respektive teleologischen (Rechts)Denken.

Diese gegenseitigen Bezugnahmen führen aber nicht nur zu einer Annäherung, sondern auch zu einer forcierten Abgrenzung der Disziplinen: Gerade weil der Auseinandersetzung mit dem Recht eine derart zentrale Rolle zukommt, besteht die Notwendigkeit für die Soziologie, sich in ihrer Gründungs- und Konsolidierungsphase von der Rechtswissenschaft abzugrenzen. Zahlreiche Soziologen versuchen, das Verhältnis ihrer Disziplin zur Rechtswissenschaft (in egal welcher Form) bzw. zur rechtlichen Denkungsart zu klären. Die Rechtswissenschaft zählt in dieser Zeit – wie Hans Kelsen feststellt – zuden „Grenzwissenschaften“ der Soziologie, und es handelt sich für die „um ihre Existenzberechtigung kämpfende[] junge[] Disziplin“ (Kelsen 1912: 601) um eine notwendige Abgrenzungsstreitigkeit.

Vice versa wird in den Rechtswissenschaften gegen eine drohende Soziologisierung angeschrieben. Die Kritik richtet sich gegen die Annahme, dass die Soziologie die eigentliche Rechtswissenschaft sei (Kornfeld), als einzig mögliche wissenschaftliche Grundlage einer Jurisprudenz, die selbst nur Technik sei, fungiere (Ehrlich), bzw. die eigentliche „Hauptwissenschaft“ (Fuchs 1910: Sp. 352) darstelle. Denn– so Wilhelm Sauer – „[d]ie Gefahr droht von dieser jungen und zukunftsreichen Wissenschaft, daß sie sich als Rechtswissenschaft aufspielt, die sie eben wegen ihres bloß beschreibenden Charakters niemals sein darf.“ (Sauer 1923: 311) Nicht nur von Hans Kelsen wird auf die Divergenz der soziologischen und der rechtswissenschaftlichen Betrachtungsweise gepocht.

Der Workshop will diese disziplinären Abgrenzungsstreitigkeiten aus interdisziplinärer Perspektive in den Blick nehmen. So sollen Perspektiven der Rechtssoziologie, der Rechtsgeschichte und der Soziologiegeschichte kombiniert werden, um ein möglichst facettenreiches Bild des Verhältnisses von Soziologie und Rechtswissenschaft Anfang des 20. Jahrhunderts zu gewinnen.

Insbesondere soll folgenden Fragen nachgegangen werden:

  • Angesichts welcher Problemlagen wird aufeinander Bezug genommen? Welche Funktion erfüllt der Rekurs auf die jeweils andere Disziplin?
  • Angesichts welcher Fragestellungen wird voneinander Abstand genommen? Welche Funktion erfüllen die zahlreichen Abgrenzungsbemühungen und -streitigkeiten in der jeweiligen Disziplin?
  • In welchem Verhältnis stehen Fremd- und Selbstbeschreibung der beiden Disziplinen? Zeigen sich hier Konvergenzen oder Differenzen?Bitte senden Sie uns Ihre Vorschläge für Vorträge (max. 400 Wörter) bis zum 30.09.19 an:doris.schweitzer@sowi.uni-giessen.de und karlson.preuss@uni-bielefeld.deSeite etwa Menzel 1912; Ofner 1894: 4; Ehrlich 1989: 25f.; Ehrlich 1966: 314f.; Kelsen 1981: 46ff.; von soziologischer Seite etwa Barth 1897: 16).
    3 So setzen sich neben Durkheim, Tönnies und Weber etwa auch Gustav von Below (1926) und Franz Oppenheimer (2014 [1929]), sowie in der geisteswissenschaftlichen Tradition v.a. Franz Jerusalem (1930: 15f.), mit der Historischen Rechtsschule auseinander.4 Prominent steht hierfür natürlich Rudolf Stammler.

Literaturverzeichnis

Achelis, Thomas (1908): Soziologie. 2. Auflage. Leipzig: Göschen.
Barth, Paul (1897): Die Philosophie der Geschichte als Soziologie. Erster Teil: Grundlegung und kritische Übersicht. Leipzig: Reisland.

Below, G. v. (1926): „Zum Streit um das Wesen der Soziologie“ in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik / Journal of Economics and Statistics 69 (124) (3/4), S. 218–242.

Brinkmann, Carl (1919): Versuch einer Gesellschaftswissenschaft. München, Leipzig: Duncker & Humblot.

Chernilo, Daniel (2013): The natural law foundations of modern social theory. A quest for universalism. Cambridge: Cambridge Univ. Press.

Ehrlich, Eugen (1966): Die juristische Logik. Neudruck der 2. Auflage Tübingen 1925. Aalen: Scientia. Ehrlich, Eugen (1989): Grundlegung der Soziologie des Rechts [1913]. Hrsg. von Manfred Rehbinder. 4. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot.

Eisler, Rudolf (1903): Soziologie. Die Lehre von der Entstehung und Entwickelung der menschlichen Gesellschaft. Leipzig: Weber.

Eleutheropulos, Abrotelēs (1908): Rechtsphilosophie, Soziologie und Politik. Zwei Abhandlungen. Innsbruck: Wagner.

Freyer, Hans (1930): Soziologie als Wirklichkeitswissenschaft. Logische Grundlegung des Systems der Soziologie. Leipzig u.a.: Teubner

Fuchs, Ernst (1910): „Freirechtlerei und soziologische Rechtslehre“ in: Deutsche Richterzeitung 2 (8), Sp. 303- 310, 345-353, 389-391.

Jerusalem, Franz (1930): Grundzüge der Soziologie. Berlin, Wien: Spaeth & Linde.
Kelsen, Hans (1912): „Zur Soziologie des Rechts. Kritische Betrachtungen“ in: Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 34, S. 601–614.

Kelsen, Hans (1981): Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht. Neudruck der 2. Auflage Tübingen 1928. Aalen: Scientia.

Kistiakowski, Th. (1899): Gesellschaft und Einzelwesen: Eine methodologische Studie. Berlin: Otto Liebmann.

Kracauer, Siegfried (1922): Soziologie als Wissenschaft. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung. Dresden: Sibyllen Verlag.

Marcucci, Nicola (2017): „Between facts and wills. Tönnies, Durkheim, and the sociological critique of modernobligation” in: Journal of Classical Sociology 17 (4), S. 276–292.

Menzel, Adolf (1912): Naturrecht und Soziologie. Wien: C. Fromme.

Mikl-Horke, Gertraude (2007): „Vergessene Hoffnungen – Rudolf Goldscheids Soziologie“, in: Fritz, Wolfgang;Mikl-Horke, Gertraude (Hg.): Rudolf Goldscheid – Finanzsoziologie und ethische Sozialwissenschaft. Münster, Wien, Berlin: LIT, S. 87–224.

Ofner, Julius (1894): Studien sozialer Jurisprudenz. Wien: Hölder.

Oppenheimer, Franz (2015): „Die beiden Wurzeln des Rechts [1929]“, in: Schriften zur Soziologie. Hrsg. von Klaus LichtblauWiesbaden: Springer VS, S. 303–318.

Sauer, Wilhelm (1923): „Übersicht über die gegenwärtigen Richtungen in der deutschen Rechtsphilosophie. Zum 200. Geburtstage Kants“ in: Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie 17 (3), S. 284–313.

Schmidt-Warneck, Fedor (1889): Die Sociologie im Umrisse ihrer Grundprincipe. Braunschweig: Selbstverlag.

Sinzheimer, Hugo (1976): „Die soziologische Methode in der Privatrechtswissenschaft“, in: Arbeitsrecht und Rechtssoziologie. Gesammelte Aufsätze und Reden. Hrsg. von Otto Kahn-Freund Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt, S. 3–23.

Sombart, Werner (1923): „Die Anfänge der Soziologie“, in: Palyi, Melchior (Hg.): Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber. I. Band. München, Leipzig: Duncker & Humblot, S. 3–19.


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